Kollektiv VolkArt

Dazu meinen andere:

Junge Welt, 3. Dezember 2005

Feuilleton

Zwiebel mit Würstchensaft

Die Besten sitzen im Frauenknast: In Berlin führten Inhaftierte das Theaterstück "Welt in Scheiben" auf

Conny Gellrich

Zwar gibt es in Deutschland nur allgemeingültig formulierte Gesetzestexte, vor dem Gesetz aber sind lange nicht alle gleich. Den Unterschied macht die Praxis. Hier ist eine Schicht für die Anwendung der Gesetze zuständig. Eine andere hat sie zu brechen. Permanent wird die Ordnung gegen sie durchgesetzt.

Mit Foucault sagt das Tanja Dörffler, eine inhaftierte Darstellerin des Berliner Kollektivs VolkArt (antiautoritäre Leitung: Arthur Albrecht, Henriette Huppmann, Thomas Lilge). Bedrückend eindringlich zeigt dessen neues Theaterstück "Welt in Scheiben", was mit den für die Unordnung Zuständigen passiert, wenn die Ordnungshüter sie in die Finger kriegen, ob im Knast oder an irgendeinem anderen Disziplinierungsort in dieser Gesellschaft.

Das Herrschaftssystem (verkörpert von Madelaine Bialkowski) richtet sein Menschenmaterial ab, als sei’s ein Fernseher, der sich programmieren ließe. Auf Knopfdruck muß kollektiv gesungen, "Ja!" geschrieen, selbstkasteit werden. Destruktiver Ungehorsam (in Gestalt von Jaqueline Matros und einem scheppernden Stuhl) wird sofort mit Sonderdisziplinierungsmaßnahmen bestraft. Gehorsamkeit ist eine Frage der Übung. Schließlich genügt Madelaines pure Anwesenheit, um zu zähmen.

Wie immer arbeitet VolkArt fragmentarisch. Einzelne Szenen werden diesmal durch die Frage verknüpft: Wie soll ich dieses Leben ertragen, wenn das System mich permanent zum Umfallen, Aufgeben, Schwachwerden drängt? Das Kollektiv hat sich mit seiner dritten Gefängnistheaterproduktion eindeutig weiterentwickelt. Die Zeit der traurigen Geschichten und schönen Lieder ist vorbei. Die Kleidchen aus den letzten Stücken wurden abgelegt. Jetzt straffen sich Muskeln unter Kapuzenpullis, knallen Körper aufeinander, aggressiv.

"Welt in Scheiben" wurde am Dienstag im Berliner Hebbel-Theater am Ufer (HAU) aufgeführt. Gerade erst hat die Bundeszentrale für politische Bildung diesen Veranstaltungsort geräumt (in jW vom 23. November wurde das Festival "Politik im freien Theater" ausführlich besprochen – d. Red.) Jetzt kann es hier wieder politisch zugehen. Sophie Karanikolas und Madelaine Bialkowski rappen die Rebellion herbei. Die Unterdrückten (Jaqueline Matros, Doris Wohlfeld, Daniela Markus, Tanja Dörffler) erlangen die Macht (in Form einer Fernbedienung). Sie terrorisieren und drillen die vormalige Herrin. Auf Dauer langweilt sie das. Sie schmeißen die Macht weg.

Die Schauspielerinnen aus der Justizvollzugsanstalt Berlin-Lichtenberg können eklig sein. Tanja Dörffler kratzt mit Furienfingernägeln das Wort Justiz von einer Tafel. Daniela Markus ißt seelenruhig eine riesige Zwiebel, spült mit Saft aus einem Würstchenglas nach. Wie sehr muß sich manch Schauspiellehrer anstrengen, um seinen Schülerinnen etwas Mut zur Häßlichkeit beizubringen. Daniela Markus frißt einfach die Zwiebel und rülpst.

Sie können aber auch poetisch sein, die Inhaftierten. Taschenlampen malen helle Punkte in die Dunkelheit der Bühne, vermummte Körper breiten die Arme aus, setzen zum Flug über die Gefängnismauern an. Der muß im Kopf passieren. Man träumt von weiter Ferne in der Enge, hier vom Sternenhimmel.

Madelaine Bialkowski ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr die Darstellerinnen in kurzer Zeit an Klasse gewonnen haben. Auf den Proben zur vorigen Produktion ("Das Wartezimmer ins Nirgendwo", jW vom 24. Mai) gab sie sich alle Mühe, ihre Rolle bis zur Premiere möglichst stark schrumpfen zu lassen. Das Schauspielen war ihr suspekt. Jetzt führt sie als Hauptdarstellerin gelassen und selbstsicher durch das Stück. Zu Beginn ist sie sehr cool, dann spielt sie sich warm, wird facettenreich in Mimik und Gestik, bleibt jedoch sparsam, was ihrem Spiel ein hohes Maß an Präzision verleiht. Mit großer Präsenz und leiser Freude absolviert das gesamte Ensemble die Szenen. Was das Publikum betrifft: Es kichert und stöhnt, juchzt und lacht. Am Ende strahlt es.