Kollektiv VolkArt

Dazu meinen andere:

fluter.de, 8. Juli 2006

Leben im Knast

Zwischen Langeweile und Träumen

Ursula Csejtei

Ihr Leben dreht sich nicht um die Schule oder Ausbildung. Sie fährt nicht zum Schüleraustausch nach England, streitet nicht mit den Eltern, wie lange man abends wegbleiben darf, und macht nicht den Mopedführerschein. "Such", so nennt sich die junge Frau, englisch ausgesprochen, kam mit 16 in den Knast. Dort hat sie ihren 17. Geburtstag gefeiert, dort hat sie ihren 18. Geburtstag gefeiert und dort wird sie auch ihren 19. Geburtstag feiern. Sie ist eine von etwa 5000 Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren in Deutschland, die einen Teil ihrer Teenagerzeit als Strafgefangene erleben.

Zum Theaterbesuch in die Justizvollzugsanstalt

Ausgerechnet ein Theaterbesuch bringt die Möglichkeit, einmal einen Blick in die fremde Welt Gefängnis zu werfen und mit inhaftierten jungen Frauen zu sprechen. Es ist die letzte Aufführung der Produktion "Der Untergang der MS Lichtenberg". Die Darstellerinnen sind in Lichtenberg und Neukölln inhaftierte Frauen, darunter auch Such. Die Gefängnisinsassinnen spielen nicht nur, sondern haben auch den Inhalt und die Inszenierung des Stückes erarbeitet, mit Hilfe von Artur Albrecht und Henriette Huppmann, die die Theatergruppe Kollektiv VolkArt leiten.

Nach einer Tournee durch mehrere Berliner Gefängnisse und einem "Ausflug nach draußen" ins ausverkaufte Hebbeltheater führen sie ihr Stück noch ein Mal für ihre Mithäftlinge auf. Während der Aufführung ist eine gespannte Stimmung im Gemeinschaftsraum der Justizvollzugsanstalt. Das Stück trifft den Nerv der Zuseherinnen, denn der Stoff dreht sich um das Hier und Jetzt der inhaftierten Frauen.

Danach sitzen einige der Darstellerinnen noch in einer kleinen Teeküche in der Justizvollzugsanstalt zusammen. Es gibt Cola und Chips, die Stimmung ist gelöst, die Vorstellung ist sehr gut gelaufen und auch sehr gut angekommen.

Grauer Alltag

Such erzählt, wie sie sich entschlossen hat, beim Theaterprojekt mitzumachen. Sie hat einen pragmatischen Grund: "In der Freizeit kann man Fernsehgucken. Und sonst – ja, kann man rumsitzen. Da ist dann Theaterspielen schon was Besonderes. Da weiß man, Artur und Henriette kommen immer donnerstags beispielsweise und das sind normale Leute, auf die man sich freut."

Aus den Geschichten, die Such oder die anderen anwesenden Frauen erzählen, klingt immer wieder durch, dass Gefängnis für sie nur selten – in Suchs Worten – "total Terror und haste nicht gesehen" ist. Zwar erzählt sie zum Beispiel von ihrer Zeit in Sicherheitsverwahrung, eineinhalb Monate alleine in einer Zelle: "Da war ich 16. So einen Kopffick hatte ich mein ganzes Leben noch nicht. Ich hab' so viel nachgedacht über die ganze Scheiße, ich kam nicht mehr klar." Trotzdem sagt sie: "Das hört sich vielleicht ein bisschen bekloppt an, aber ich muss sagen, ich bin positiv überrascht." Es sind keine Horrorgeschichten, sondern eher zähe Langweile, stille Einsamkeit und unauffällige Traurigkeit, die den Alltag im Gefängnis beherrschen.

Suchs Tagesablauf ist Teil des Theaterstücks geworden. Sie spricht schnell und konzentriert, wenn sie ihn vorträgt: "6.45 - Ich wache auf und rauche eine Kippe. Dazu setze ich mich hin, damit ich nicht wieder einschlafe. 7.00 - Ich gehe in die Werkstatt und fange an zu arbeiten. Ich säge irgendwas. Mir ist langweilig. 8.00 – Frühstückspause. Ich esse eine Stulle, wenn ich eine habe, sonst rauche ich eine Kippe. 8.30 - Weiterarbeiten. Ich säge irgendwas. Mir ist langweilig …"

Hinterher erzählt sie, dass der Text keine Spur von Fiktion in sich hat: "Ich bin in der Werkgruppe und muss sägen, sägen, sägen. Die ganze Zeit sägen. Heute zum Beispiel hab ich so ein Stück zu Ende gesägt, so ein zeitloses Motiv mit Blümchen und Schmetterlingen. Damit bin ich heute endlich fertig gewesen und habe dann gefragt: Kann ich vielleicht zur Überbrückung, um ein bisschen runterzukommen, was anderes machen? Ja, war die Antwort, sägen sie was Kleineres!"

Resozialiserung unter Kriminellen

Wenn Jugendliche ins Gefängnis kommen, soll das in erster Linie ihrer "Resozialisierung" dienen. Nicht Sühne, Vergeltung oder Abschreckung stehen im Vordergrund der "erzieherischen Jugendstrafe". In der Theorie soll die Zeit im Gefängnis die Jugendlichen dazu befähigen, wieder ein Teil der "normalen", sprich nicht straffälligen Gesellschaft zu werden. Das Paradox: Lernen sollen das die Jugendlichen abgeschieden von eben dieser "normalen" Gesellschaft, umgeben von anderen Kriminellen und Drogenabhängigen. Stichwort Drogen: "Ich kenn' draußen keine Sau, die Heroin nimmt, und hier oben auf Jugendstation, da war ich dabei, wie sich welche was ballern. Das sind auch Sachen, die ich jetzt erst hier gesehen habe. Es ist jetzt nicht so, dass ich mir auch was ballern muss, aber ich hätte es nicht sehen wollen", sagt Such.

Kontakte zur "Außenwelt" sind rar. Wenn Besuch kommt, erzählt eine Frau aus der Theatergruppe und die anderen Insassinnen nicken bestätigend, sei es schwierig sich zu unterhalten: "Man sitzt dann da und man hat ja nichts erlebt, was man erzählen kann. Und man kann auch nicht sagen, was man denkt und was man fühlt, sonst geht der Besuch total verstört weg."

Perspektive Rückfall?

Such ist, wenn alles nach Plan verläuft, 2007 straffrei. Die Monate bis dahin kann sie im offenen Vollzug verbringen. Wenn sie sich gut führt, wird sie demnächst in einem Fußballteam außerhalb der JVA trainieren und ab September an einer Ausbildungsmaßnahme teilnehmen. Sie hat das Gefühl, dass sie anfängt auf irgendwas hinzuarbeiten. "Aber wer sagt mir, dass an dem Tag meiner Entlassung nicht alles wird wie vorher. Das kann mir niemand garantieren." Auf die Frage, ob sie das, was kommt, nicht selbst in der Hand hat, meint sie nur: "Das ist nicht so easy."

Dass es tatsächlich nicht so "easy" ist, bestätigt die Statistik: Die Rückfallquote, also die Wahrscheinlichkeit, wieder straffällig zu werden, liegt für inhaftierte Jugendliche bei 78 Prozent. Artur Albrecht und Henriette Huppmann vom Kollektiv VolkArt übersetzen die anonyme Zahl von 78 Prozent in ihre persönlichen Erfahrung: "Wir könnten das Stück, dass wir vor ein paar Jahren mit Insassinnen gemacht haben, derzeit wieder in Originalbesetzung aufführen."

Einfrieren statt ändern

"Ich weiß, dass ich Kacke gebaut habe und warum ich da bin, jetzt muss ich's ausbaden und daran arbeiten, dass es nicht noch mal so kommt", sagt Such. "Vielleicht ist das irgendwie gut für mein Leben, dass ich mal einen Schlusspunkt habe und aufhöre, mich so kaputt zu machen", meint Türkan, 26, die auch in der Theatergruppe ist. Die jungen Frauen scheinen das Herausgerissen-Werden aus ihren alten Lebenszusammenhängen auch als Chance wahrzunehmen, einen Schlussstrich zu ziehen und neu anzufangen – auch wenn sie sehr darunter leiden. Such und die anderen Frauen sind bereit, sich zu ändern.

Das Problem ist aber, dass im Gefängnis nur sehr selten etwas Neues, Gutes beginnt. Das etwas Besonderes im Knast passiert wie die Theaterproduktion "Der Untergang der MS Lichtenberg", hängt vom Engagement von Einzelpersonen ab. Artur Albrecht findet ein passendes Bild für die Situation: "Gefängnis ist Stillstand. Das ist wie - Kühlschrank auf, Mensch rein, drei Jahre lang drinnen lassen, Kühlschranktür wieder auf, Mensch raus. Das Problem besteht nur darin, dass der Mensch, wenn er nach drei Jahren wieder rauskommt, weitaus aggressiver und krimineller ist als zuvor."

Ursula Csejtei lebt in Berlin.

Zuerst erschienen auf www.fluter.de

©2001-2006 fluter.de / Bundeszentrale für politische Bildung