Kollektiv VolkArt

Dazu meinen andere:

Berliner Zeitung, 15. Dezember 2004

Barfuß auf der Bühne

VON SABINE DECKWERTH

Im Frauenknast wird Theater gespielt. Es geht um den Alltag, um Sehnsüchte und Fantasie Es fehlt an Schuhen. Nicht an irgendwelchen Schuhen, sondern an solchen, die elegant sind und hohe Absätze haben. Wie soll das denn aussehen, so ein Kleid aus schillerndem Taft mit Rüschen und Spitzen - und dann Turnschuhe dazu? Aber wer hat schon Pumps in einem Knast? Wann soll man die tragen? Oben, vor dem Fernseher in den Zellen? Oder etwa beim täglichen Rundendrehen im Hof?

Nicole trägt sonst auch nie Kleider. Nur zur Theaterprobe, da zieht sie jedes Mal eins an. Es glänzt wie Gold, glitzernde Steine sind auf den Rock aus Tüll genäht. Wie Marilyn Monroe sehe sie darin aus, witzeln die Frauen, die wie Nicole Theater spielen. Alle sind Gefangene in der Lichtenberger Justizvollzugsanstalt für Frauen. Sie wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt wegen "gemeinschaftlichen Raubes", wegen "Geiselnahme, Freiheitsentziehung und gefährlicher Körperverletzung", wegen "bewaffneten Raubüberfalls" und "Beschaffungskriminalität".

Sieben inhaftierte Frauen proben ein Theaterstück, gemeinsam mit dem "Kollektiv Volkart", das von dem Schauspieler Artur Albrecht und Studenten der Theaterwissenschaften extra für Theaterprojekte im Knast gegründet wurde. Albrecht sagt, Theater sei auch ein Stück Sozialarbeit. Weil es den Frauen Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein gibt.


Foto: Berliner Zeitung / Gerd Engelsmann
Probenpause im Knast: Inhaftierte des Lichtenberger Frauengefängnisses spielen Theater.

Die Frauen spielen "wegen der Abwechslung", "um Spaß zu haben", "um sich auszuprobieren" und um "über die Theaterleute mal Kontakte nach draußen zu bekommen". Theater der Stadt unterstützen das Projekt. Die Volksbühne hat Kleider aus ihrem Fundus zur Verfügung gestellt, das Maxim-Gorki-Theater vier Scheinwerfer. Das Stück hat einen komplizierten Titel. Es heißt "Wie Gott Freiheit sich über eben diese den Kopf zerbrach und dabei vom Affen gebissen wurde." Das klinge lustig, sagen die Frauen. "Das ist ein Thema, das zu uns passt." Es geht um Alltag im Knast, um Sehnsüchte und Fantasie. Es gibt Texte, die vorgegeben sind, und Texte, die sich die Frauen ausdenken. Das Stück lebt von Monologen und Dialogen, von Solo und Chorgesängen. Alles ist möglich.

"Es gibt Tage, an denen ich mich so einsam fühle, dass ich mich am liebsten in der Mitte durchschneiden würde, nur um nicht mehr allein zu sein", ruft Monica in den Saal.

"Manchmal kann ich nicht mal Fernsehen schauen, weil ich dabei so neidisch werde. Ich werde ein Superstar, egal wo", ruft Nicole.

Überraschung und Improvisation

Monica hat als Erste ihre Texte auswändig gelernt. Sie sagt, sie sei immer schon gut gewesen in Deutsch. Monica hat noch drei Monate vor sich. Draußen, bei den Eltern, lebt ihr zwei Monate alter Sohn. Sie sagt: "Theater lenkt mich ab, die Zeit vergeht schneller."

Nicole sitzt eine Jugendstrafe ab, sie hat gerade drei Monate hinter sich und noch eineinhalb Jahre vor sich. Zu viert haben sie jemanden ausgeraubt, Nicole, ihr Freund, und noch zwei Kumpel. Nicole spielt nicht nur, sie singt auch zur Gitarre. Dann steht sie mit einem Mikrofon in der Hand auf einem Tisch, wiegt sich graziös im Takt, streicht dabei immer wieder fast zärtlich über das goldene Kleid. Ein Lied aus dem Film "König der Löwen" hat sie sich zum Thema Freiheit ausgesucht. "Oh, im Dschungel, da ruft die Trommel, der Löwe schläft heut Nacht..." Nicole sagt, sie träume davon, mal bei einer Show im Fernsehen aufzutreten.

Immer Dienstagnachmittag wurde geprobt. Zwischen vier und sieben, nach der Arbeit im Gewächshaus, in der Wäscherei oder nach dem Putzen. Ab vier Uhr nachmittags bis zum Einschließen abends halb zehn ist Freizeit für die Frauen in der Anstalt. Da dürfen sie sich frei bewegen innerhalb einer Station mit zwölf Zellen. Man kann im Gruppenraum fernsehen, in der Küche kochen, auf dem Hof im Kreis gehen - oder eben im Kultursaal der Anstalt Theater spielen. Das ist ein Raum so groß wie eine Schulaula, in dem sonntags Gottesdienste stattfinden. Es gibt eine kleine Bühne, ein paar Ficus-Bäume. In einer Ecke steht ein Klavier. Aus den vergitterten Fenstern blickt man auf den Innenhof mit einem Sportplatz und einer Gärtnerei. Etwa 5 300 Häftlinge gibt es in Berlin, nur 219 davon sind Frauen. 77 von ihnen leben im geschlossenen Vollzug der Lichtenberger Alfredstraße, einem ehemaligen Stasi-Gefängnis, das umgebaut wurde. Viele sind drogenabhägig. Elf Frauen wurden wegen Totschlags oder Mordes verurteilt. 10,3 Quadratmeter ist jede Zelle groß - Platz für Dusche, Bett, Schreibtisch, Schrank.

"Es gibt tausend Möglichkeiten, und jede Einzelne macht mich wahnsinnig. Ich habe mich entschieden, mich zu entscheiden", ruft Steffi.

"Ich habe so ein großes Herz, dass es manchmal schon weh tut, nur weil es schlägt. Ich bin härter als alle anderen hier", ruft Petra.

Zu den Proben werden die Frauen einzeln oder zu zweit von Beamtinnen gebracht. Artur Albrecht, der das Projekt leitet, hat immer eine große Thermoskanne Tee und viele Pfefferkuchen dabei. Und natürlich Zigaretten. Seine Schachtel Malboro ist leer geschnorrt, bevor überhaupt jemand auf der Bühne steht. Alle Frauen rauchen, und Tabak ist in allen Knästen der Welt das wertvollste Gut.

Theater im Gefängnis funktioniert nicht durch streng vorgegebene Rollen. Theater im Gefängnis lebt von Überraschung und Improvisation. Die Frauen sollen sich geben, wie sie sind. Wer seine Texte ablesen will, kann ablesen. Wer eine Strophe vergessen hat, singt eine andere eben doppelt. Es ist in Ordnung, dass Nicole irgendwann ihre Schuhe durch den Saal wirft, weil sie barfuß laufen will. Und dass Steffi, bevor sie singt, sich die Kapuze ihres T-Shirts so weit in die Stirn zieht, als ob sie sich darin verstecken will. Steffi singt einen Blues und hat eine wunderbare Stimme. Sie sang früher mal in einem Gospelchor.

Petra hat sich eine Krawatte umgebunden und sich aus dem Kostüm-Fundus einen viel zu großen Männeranzug ausgesucht. Sie steht auf der Bühne und spielt Bass. Sie hat das Bass-Spielen erst vor drei Wochen gelernt. Petra sagt, sie mache bei dem Theaterstück mit, "weil ich es gut finde, mal über meinen Schatten zu springen und was neues auszuprobieren". Petra hat drei Jahre und drei Monate bekommen, weil sie mit einem Freund eine Tankstelle überfiel. Sie sagt, "wenn ich rauskomme, spiele ich auf jeden Fall draußen weiter Theater".

Am vergangenen Freitag haben die Frauen ihr Stück aufgeführt. Keine hat ihren Text abgelesen, Nicole behielt ihre Schuhe an und Steffi ließ sogar ihr Gesicht erkennen. Es war voll im Kultursaal der Haftanstalt. Alle Gefangenen waren gekommen, Mitarbeiter der Anstalt, Gäste aus der Justizverwaltung und von Berliner Theatern. Es gab kräftig Applaus und Bravo-Rufe. Artur Albrecht hatte selbst gemachte Buletten und Kartoffelsalat mitgebracht. Er will im kommenden Jahr weitermachen mit dem Theater im Knast und hofft, dass noch mehr Frauen Gefallen am Spielen finden. Wenn's sein muss, in Turnschuhen.