Kollektiv VolkArt

Dazu meinen andere:

Berliner Zeitung, Feuilleton, 10. Juni 2006

Feuilleton

Die Sehnsucht nach dem Horizont

Gefangene spielen Theater in der JVA Tegel und im HAU 3

Irene Bazinger

Ob es irgendwo einen Kaffee oder Sitzkissen gebe, ob eine Toilette in der Nähe sei? Die strenge Aufsichtsdame mit der akkurat zu den Kanten ihres abgenutzten Tischchens ausgerichteten Namensliste schüttelt ungeduldig den Kopf. Trotz der so naiven wie doch normalen Wünsche der frisch eingetroffenen Gäste gibt sie sich Mühe, nicht unhöflich zu werden: "Ich muss es ganz deutlich sagen, Sie sind hier - nun ja - im Knast!"

Um genau zu sein: In der Justizvollzugsanstalt Tegel, mit 1571 Haftplätzen die bundesweit größte Einrichtung dieser Art. Wer hier landet, hat seine Ansprüche zu vergessen, selbst wenn es sich statt um Verurteilte um Zuschauer der "Nibelungen" handelt, der neuesten Produktion des seit 1997 bestehenden Gefängnistheaters "Aufbruch".

Deshalb meldet man sich nicht nur mindestens fünf Tage vor der jeweiligen Vorstellung an, sondern deponiert am Einlass brav sämtlichen Tascheninhalt von Geldbörse bis Handy in einem Schließfach und tauscht den Pass gegen eine eingeschweißte grüne "Besucherkarte".

Nachdem sich das gewaltige Eisentor knirschend geöffnet hat, bringt ein Uniformierter die Gruppe zu einem bislang brach gelegenen "Freistundensportplatz" mit narbiger Grasdecke. Dort wartet zwischen zwei backsteinernen Gebäudeflügeln eine Tribüne auf das Publikum, ein kreuzförmiges Podest auf die Darsteller.

Aus den vergitterten Zellenfenstern ringsherum strecken die Inhaftierten wie in alten Filmen die Arme heraus, rufen, fluchen, pfeifen. Das erste Tegeler Knast-Open-Air findet eben nicht im luftleeren Raum statt.

Inszeniert von Peter Atanassow spielen zwei Dutzend schwere Jungs mit "Nibelungen" eine Collage urdeutscher Mythologie voller todessüchtiger Zwist- und Kriegsbilder, Blut- und Bodenvisionen. Sie zitieren Friedrich Hebbel, Heiner Müller, Moritz Rinke, sie schmettern "Lützows wilde, verwegene Jagd" aus den Befreiungskriegen und den Brautchor aus Wagners "Lohengrin", sie zeigen eindringlich choreografierte Männlichkeitsrituale von Abklatschen über Aufmarschieren bis zum stilisierten Waffengang mit Stöcken.

In der JVA Tegel, wo zu rund einem Drittel Ausländer einsitzen, macht die Kostümierung mit aktueller Bundeswehr-Kampfkleidung alle am Stück beteiligten Deutschen, Kurden, Russen, Libanesen, Serben, Türken, Palästinenser gleich: Mann ist Mann - und das in hart die Szenen prägender Entschlossenheit. Auf diese physische Weise reflektieren die Arrestanten ihre Rollen im anonymisierenden Gefängnisalltag wie im aufgefächerten gesellschaftlichen Funktionszusammenhang. Sie sind so frei, obwohl sie überwiegend lange Strafen verbüßen, und treten bedacht wie kraftvoll aus ihrer Nischenexistenz heraus: Hinter Stacheldraht, aber in dieser außerordentlichen Aufführung keineswegs hinterm Mond.

"Die Sehnsucht nach dem Horizont" ist es auch, die im HAU 3 das seit 2003 bereits siebte Projekt von "Kollektiv VolkArt" mit Insassinnen der Berliner JVA für Frauen bestimmt: "Der Untergang der MS Lichtenberg" thematisiert Zwänge und Zerrüttungen, die während der Haftzeit eintreten. Verwischte Aufnahmen durch den Türspion einer Zelle vermittelt bedrückende räumliche Enge. Kleinere Monologe der sechs Darstellerinnen mit Texten von Aischylos bis Ulrike Meinhof erzählen von psychischen Nöten, von Wut und Hysterie.

Eine Männerstimme gibt zwischendrin wie zum Hohn das Kommando "Freistunde", worauf ohrenbetäubend der "Radetzkymarsch" erklingt. Dazu absolvieren die sechs Frauen als heftig gedrillte Äffchen sofort eine alberne Tanzgymnastik, können allerdings vor lauter verordnetem Müßiggang nie wirklich entspannen. Sie haben Schiffbruch erlitten, doch noch genug trotzige Energie, um sich auf blauen Kunststofffässern in grenzenlose Euphorie zu trommeln.

"Ich trage mein Innerstes nach Außen", sagt einmal eine für alle, und diese Verletzlichkeit mit persönlicher Gewähr gibt der Veranstaltung ihre emotionale Intelligenz und klare, berührende Stärke.

(c) Irene Bazinger